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YCF Tip: Das Opferinterview

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Rocker oder Rentner?

Stell dir einmal folgende fiktive Situation vor:

Straßenräuber H. beginnt wie immer seine Arbeit bei Anbruch der Abenddämmerung. Er hat den Entschluss gefasst, jemanden zu überfallen und dabei möglichst viel Bargeld zu erbeuten. H. ist bereit, hierzu Gewalt gegen seine Opfer anzuwenden und hat dies in der Vergangenheit auch schon mehrfach erfolgreich praktiziert und die Überfälle zu seinem Vorteil vollzogen.

Während er über die jetzt nur noch wenig belebte Hauptstraße der Kleinstadt schlendert und dabei in eine Seitengasse blickt, fällt ihm dort eine Gruppe junger sportlicher Männer auf. Alle tragen schwere Lederjacken und darüber Jeanswesten mit Aufnähern eines bundesweit bekannten Motorradclubs sowie weitere Badges mit Slogans, wie „I’m your nightmare“ und „Hitman of the Devil“. Im fahlen Mondlicht glaubt H. aus mindestens einem Stiefelschaft den Griff eines Messers herausragen zu sehen.

Sodann beobachtet H., wie einer der Beteiligten einem anderen ein Paket überreicht. Im Gegenzug wechselt ein Bündel Geldscheine den Besitzer. Mit geübtem Auge erkennt H., dass es sich dabei um mehrere tausend Euro handeln muss. Währenddessen beobachten die anderen Mitglieder der Gruppe die Umgebung, H. haben sie bislang noch nicht bemerkt.

Der Räuber geht weiter die Strasse entlang. In der nächsten Seitengasse befindet sich ein Geldautomat. Als H. dort eintrifft, beobachtet er, wie eine ältere Dame aus diesem gerade Bargeld entnimmt und umständlich in ihrer Geldbörse verstaut. Danach steckt sie die Geldbörse in ihre Handtasche, deren dünnen Riemen sie dann über ihre linke Schulter hängt. H. schätzt, dass es sich bei dem Geld um eine Summe von ca. 100 Euro handelt.

Die Frau, die etwa 80 Jahre alt sein dürfte, ergreift nun mit ihrer rechten Hand einen Krückstock und entfernt sich mit schlurfenden Schritten langsam vom Geldautomaten, wobei sie H., den sie bislang noch nicht bemerkt hat, den Rücken zuwendet. Weit und breit ist ansonsten kein Mensch zu sehen.

Was glaubst du? Welche der beiden beobachteten Situationen würde der Straßenräuber H. in Ermangelung anderer Gelegenheiten eher ausnutzen, um an das von ihm erkannte Bargeld zu gelangen? Motorradfreunde oder Omi?

Räuber, Schläger, Gangster, Vergewaltiger und viele andere Straftäter haben für gewöhnlich eine leicht erkennbare Gemeinsamkeit. Sie haben keine nennenswerten Probleme damit, Gewalt gegen andere Menschen auszuüben.

Allerdings missfällt auch ihnen zumeist die Rolle als Gewaltempfänger. Mit anderen Worten: Auch der Täter hat das grundsätzliche Bestreben, nicht selbst zum Opfer zu werden (Geisteskrankheit oder Drogenrausch für diese Betrachtung einmal ausgeschlossen).

Konsequenterweise findet seitens des Täters so gut wie immer eine vorherige Lagebeurteilung statt. Der Täter will dabei feststellen, welche Chancen sein Angriff haben wird und welches mögliche Risiko er eingeht. Dieses Risiko besteht dabei im Wesentlichen in der Gefahr für die eigene körperliche Unversehrtheit, bzw. das eigene Leben und natürlich der Entdeckung und Strafverfolgung.

Diese Lagebeurteilung entspricht dem taktischen Begriff der Voraufklärung und wird auch „Evaluation“ oder „Interview“ genannt. Allerdings hat dies wenig mit Journalismus zu tun und auch ein Mikrofon wird dabei eher selten genutzt. Es muss bei dem Interview noch nicht einmal zu einem verbalen Dialog zwischen den Beteiligten kommen.

Die durch den Täter durchgeführte Voraufklärung kann wenige Sekunden oder mehrere Monate dauern. Sie kann bewusst oder unbewusst erfolgen. In jedem Fall gilt aber: Wenn das Interview aus seiner Sicht erfolgreich ist, dann erhältst du vom ihm quasi das Prädikat O auf die Stirn gestempelt. O für Opfer.

Es lohnt sich also, bei diesem „Bewerbungsgespräch“ durchzufallen. Hierzu solltest du zunächst die gängigsten Formen des Interviews kennen.

 

Das „heiße“ Interview

Das heiße Interview ist verhältnismäßig leicht zu erkennen. Es handelt sich um ein zumeist plötzliches Auftreten des Täters mit kraft- und emotionsvoll vorgetragenen Äußerungen. Während du also z.B. gerade gedankenversunken in dein Bierglas starrst, ist er da und spricht dich harsch an.

Die Klassiker „Was glotzt du so doof?“ oder „Ey, Alter, hast du’n Problem?“ fallen in diese Kategorie. Diese verbalagressiven Attacken stellen (noch) keine physischen Angriffe dar. Es sind eher Angriffe auf deine Psyche, bzw. deine emotionale Verfassung.

Wenn du nicht darauf trainiert bist, mit dieser Art von Ansprachen umzugehen und verschüchtert, irritiert und verwirrt reagierst, steigen deine Chancen, in den Augen des Täters als Opfer angesehene zu werden.

Du befindest dich am Rande einer Rot-Lage. Körperliche Angriffe können jederzeit ansatzlos erfolgen, während du aufgrund deiner Desorientierung nicht in der Lage bist, schlüssig zu reagieren.

 

Das eskalierende Interview

Im Gegensatz zum heißen Interview, welches unmittelbar mit einer Anfeindung startet, beginnt das eskalierende Interview meist vergleichsweise freundlich. Der Täter testet deine Grenzen dabei aus und will feststellen, wie weit er gehen kann. Die Ansprache kann z.B. sein „Hey, du sitzt da gerade auf meinem Stuhl.“

Nachdem du wohlerzogen antwortest: „Oh, Entschuldigung, das habe ich nicht gewusst.“, kommt dann womöglich die nächste Stufe: „Kein Problem. Gib mir einfach einen aus, und die Sache ist ok.“

Wie es weitergeht, hängt ganz entscheidend davon ab, wie du dich verhältst. Grundsätzlich ist zu erwarten, dass jedes Mal, wenn der Täter deine Grenze erfolgreich verletzt, seine Überzeugung wächst, dass du als Opfer bestens geeignet bist. Akzeptierst du also in diesem Fall die dir aufgezwungene Spendierhose, kann es sein, dass es so weitergeht: „Der da drüben ist übrigens mein Kumpel. Der trinkt auch einen mit.“

Mittelfristig kann es geschehen, dass du den ganzen Abend als unfreiwilliger Gastgeber fungierst. Vielleicht verlangen deine neuen Freunde beim Verlassen des Lokals auch deine Geldbörse und deine Autoschlüssel. Oder man kommt auf die Idee, die Party einfach bei dir zu Hause fortzusetzen.

Der Umschwung zu körperlicher Gewalt ist ohnehin jederzeit ansatzlos möglich.

 

Das „gemeine“ Interview 

Beim gemeinen (im Sinne von „normal“) Interview wird durch den oder die Täter in der Regel ein verbales Ablenkungsmannöver initiiert. Dies kann z.B. das Fragen nach dem Weg, der Uhrzeit oder einer Zigarette sein. Während der Ansprache und deiner Reaktion darauf checkt der Täter deine Aufmerksamkeit und dein Verhalten, um seine Chancen zu evaluieren. Bewusst oder unbewusst stellt er z.B. fest, ob du Anzeichen von Angst aussendest, aber auch, wie hilfsbereit oder entschlossen du erscheinst.

Diese Art der Kontaktaufnahme ist eine verbreitete Taktik von Räubern und Taschendieben, sie findet aber auch Anwendung bei gewöhnlichen Schlägern und anderen Kriminellen. Die Täter nutzen hier regelmäßig das bei den meisten Menschen vorhandene freundliche Sozialverhalten aus.

 

Das stille Interview

Beim stillen Interview hat der Täter zunächst die Absicht, nicht entdeckt zu werden. Er will dich ungestört studieren, um seine Chancen gegen dich auszuloten. Wenn er dich als „hard target“ klassifiziert, ist die Chance groß, dass er statt dir ein anderes Opfer auswählt.

Dabei wird keine direkte Interaktion mit dir stattfinden. Alles spielt sich im Kopf des Täters ab. So kann dieser sich z.B. in der Nähe eines Geldautomaten positionieren, um dort auf ein für ihn passendes Opfer zu warten, während er nacheinander alle dort tätigen Personen seinem stillen Interview unterzieht. Meist erfolgt dann ein überraschender Angriff, wobei dem Opfer nur Sekunden zur richtigen Reaktion verbleiben.

Wird der Täter vorab entdeckt oder muss seinen Angriff abbrechen, erfolgt häufig seinerseits eine Einlassung im Sinne von „Wieso? Ich hab doch gar nichts gemacht.“ oder „Man wird doch wohl noch an der Ecke stehen dürfen.“

 

Das lange Interview

Das lange Interview zeichnet sich dadurch aus, dass es über einen längeren Zeitraum stattfindet. Stalker, Trickbetrüger, Serienvergewaltiger, Entführer und Einbrecher nutzen häufig diese Form der Ausspähung über Tage oder sogar Wochen und Monate.

Diese langen Interviews können (z.B. beim Stalking) mit anderen Interviewformen kombiniert erfolgen. In den meisten Fällen hat der Täter allerdings ein Interesse, möglichst lange unentdeckt zu bleiben.

Als Opfer kann es dir also sogar passieren, dass du unbemerkt interviewt wirst, während du dich in deinen eigenen vier Wänden aufhältst.

 

Gegenmaßnahmen (Mastering the interview)

Wenn du feststellst, dass du Ziel eines Interviews bist und du nicht in der Lage bist, dich zu entziehen, gibt es nur eine Lösung: Du musst schnellstmöglich dein gesamtes Erscheinungsbild umschalten auf absolute Entschlossenheit.

Es darf für  dein Gegenüber nicht die Spur eines Zweifels geben, dass du ein ausgesprochen unangenehmer Gegner sein wirst.

Hierfür benötigst du einen unmissverständlichen Auftritt, der insbesondere durch deine Körperhaltung und durch bestimmte Verbaltaktiken bestimmt wird. Unmissverständlich bedeutet dabei, dass alle Signale, die du aussendest, eine einheitliche Sprache sprechen müssen.

Die Gesprächsführung mit dem Täter muss ebenso ruhig wie entschlossen erfolgen. Halte deine Emotionen unter Kontrolle. Trainiere dies im Rahmen deines Taktischen Selbstverteidigungstrainings.

Hier weitere grundsätzliche taktische Tipps:

  • Rechne stets damit, Ziel eines Interviews zu werden. Es kann dich immer und überall treffen. Sei konstruktiv misstrauisch, wenn eine Person dich unerwartet anspricht.
  • Rechne immer damit, dass mehrere Täter beteiligt sind, auch wenn du zu Beginn nur eine einzelne Person wahrnimmst.
  • Gewöhne dir eine weitläufige Beobachtung deiner Umgebung an, um stille/lange Interviews zu bemerken.
  • Beachte die taktischen Hinweise zum Aufenthalt in deiner Wohnung, deinem Fahrzeug, in öffentlichen Verkehrsmitteln etc. (s. gesonderte Artikel).
  • Wenn eine Person sich dir nähert und dein Instinkt dir sagt, dass hier etwas nicht stimmt, werde sofort aktiv. Lasse niemals den anderen die Situation bestimmen.
  • Gehe auf Distanz. Bringe so viele Hindernisse zwischen dich und den Täter wie möglich. Zwinge ihn, erst einen unbequemen Weg zurücklegen zu müssen, bevor er bei dir ist.
  • Halte einen räumlichen Mindestabstand von etwa 2 Metern ein. Sorge aktiv dafür, dass dieser Abstand immer wieder hergestellt wird. Du bist damit aus der direkten Reichweite des potenziellen Täters und kannst besser reagieren, wenn er  dich angreift. Fordere dein Gegenüber ggf. auf, Abstand zu dir zu halten.
  • Positioniere dich taktisch vorteilhaft für Kampf und Flucht und halte dabei die Umgebung im Auge.
  • Halte deine Hände vor deinem Körper. Nimm eine aufrechte Körperhaltung ein, kontrolliere deine Atmung.
  • Halte deine Hände frei oder habe eine Behelfswaffe darin. Drohe aber nicht mit dieser, um deinen Überraschungseffekt nicht zu verspielen.
  • Rechne jederzeit damit, dass dein Gesprächspartner dich anfasst oder körperlich angreift.
  • Halten deinen Blick auf seinen Kopf-/Halsbereich. Senke deinen Blick nicht. Weiche seinem Blick nicht aus.
  • Behalten seine Hände (peripher) im Blick. Sei besonders alarmiert, wenn er in seine Tasche oder Kleidung greift. Es kann der Griff zu einer Waffe sein.
  • Wenn er dir eine Frage stellt, beantworten Sie diese negativ. Egal, wie belanglos oder angemessen sie scheint. Es besteht für dich keine Pflicht zur Höflichkeit. Beispiel: „Können Sie mir sagen, wie ich zum Bahnhof komme?“ Antwort: „Nein.“ „Können Sie mir sagen wie spät es ist?“ Antwort: „Nein.“ (vermeide den reflexartigen Blick zur Uhr.) Lässt dein Gegenüber daraufhin nicht von dir ab, kannst du sicher sein, dass er mehr will als nur eine harmlose Auskunft.
  • Will der Täter sich selbst entfernen oder flüchten, hindere ihn nicht daran.

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